Pflanzenheilkunde

Das Erbe des Tabernaemontanus: hilft uns Kräuterwissen aus dem 16. Jahrhundert weiter?

2. November 2022
Buch

Wie heißt es heute so oft: Wer reich sein will, muss erben. Wir Heilpflanzenkundigen haben es gut: Wir erben reichlich. Ganze drei Kilogramm wiegt ein besonderer Schatz in meinem Regal: Das über 1600 Seiten umfassende „Neu vollkommen Kräuter-Buch“ des Arztes und Apothekers Jacobus Tabernaemontanus. 

Sebastian Vigl

Lesezeit: 4 Minuten

Das Kräuterwissen des Tabernaemontanus

Als ich noch in einer Berliner Kräuterapotheke arbeitete, rief mich einmal – zur Klärung eines Rezeptes – eine Apotheke aus Bad Bergzabern an. Wir kamen schnell in ein angeregtes Gespräch über eines der bekanntesten Kinder dieser Stadt, den wahrscheinlich um 1522 geborenen Jakob Dietrich. In seiner Jugend war er als Kräutersammler tätig. Wahrscheinlich wurde er inspiriert von seinem Gymnasiallehrer. Dieser könnte Hieronymus Bock (1498–1554) gewesen sein, einer der Väter der Botanik und ein bekannter Heilpflanzenkundiger. Als junger Mann absolvierte Jakob Dietrich ein Medizinstudium in Italien und Frankreich. Später war er als Apotheker, Arzt, Autor und Professor tätig. Bis zu seinem Tod im Jahre 1590 nannte er sich Jacobus Theodorus Tabernaemontanus. In diesem Namen finden wir eine Anspielung auf seine Geburtsstadt, denn Bergzabern wurde auf Latein Tabernae montanae genannt.

Hilft uns das Kräuterwissen von Tabernaemontanus heute?

Ist das Heilpflanzenwissen des Tabernaemontanus heute noch relevant? 2011 stellte sich die Ärztin Sandra Clair diese Frage und veröffentlichte eine Publikation dazu. Sie schlug darin vor, sich auf 12 Heilpflanzen zu konzentrieren. Die meisten davon dürften wahrscheinlich auch Dir bekannt sein: Weißdorn (Crataegus spp.), Goldrute (Solidago virgaurea), Johanniskraut (Hypericum perforatum), Kamille (Matricaria chamomilla), Mariendistel (Silybum marianum), Schafgarbe (Achillea millefolium), Thymian (Thymus vulgaris), Ringelblume (Calendula officinalis), Beinwell (Symphytum officinale), Arnika (Arnica montana), Frauenmantel (Alchemilla vulgaris) und Brennnessel (Urtica dioica) [1].

Vergleiche mit heutigem Heilpflanzenwissen

Einige der bei Tabernaemontanus aufgeführten Indikationen dieser Pflanzen haben sich bis heute gehalten. Im Kapitel über den Beinwell (von Tabernaemontanus Wallwurz genannt) lesen wir, dass die Wurzel innerlich und äußerlich bei Brüchen Anwendung findet [1]. Daneben bei Verletzungen und „zerknirschten Gliedern“ [1], womit Gelenk- und Muskelbeschwerden gemeint sein könnten. Indikationen, die wir auch heute noch im Gebrauch wiederfinden. HMPC, Kommission E und ESCOP befürworten in ihren Monografien die äußerliche Anwendung bei schmerzhaften Muskel- und Gelenkbeschwerden, Prellungen, Zerrungen und Verstauchungen.

Hinweis! Aufgrund potenziell toxischen Pyrrolizidinalkaloide wird Beinwell heute nur noch äußerlich als Fertigpräparat angewendet.

Im Johanniskraut-Kapitel des Kräuterbuchs von Tabernaemontanus finden wir uns bekannte Indikationen für das Johanniskraut-Öl wie Verbrennungen und Wunden. [2] Auch heute weniger bekannte, aber bisweilen noch gebräuchliche Anwendungsformen finden wir. So empfiehlt Tabernaemontanus die Einreibung des Bauches mit Johanniskraut-Öl bei krampfartigen Bauchschmerzen und die Einreibung der Gelenke, wenn sich Beschwerden infolge von Kälteeinwirkung zeigen. Beim Johanniskraut finden wir auch eine auf den ersten Blick äußerst frauenfeindlich anmutende Formulierung: Das Kraut „treibe die Blödigkeit der Weiber“ [2].

Wieso schimpft Tabernaemontanus?

Wer mit dem Buch und seiner mittelalterlichen Ausdrucksweise nicht vertraut ist, mag sich manchmal wundern bei der Lektüre. Oder sogar den Kopf schütteln. Der Autor scheint über alle möglichen Organsysteme, die kränkeln, zu schimpfen. Er spricht von „blöden“ Augen oder der „blöden“ Leber. Oder sogar von der „Blödheit der Weiber“. [2] Hierbei ging es dem Autor jedoch nicht darum, Menschen oder Organe herabzuwürdigen oder zu entwürdigen. Während wir heute das Adjektiv „blöd“ mit „dumm“ gleichsetzen, bedeutete es im Alt- und Mittelhochdeutschen vielmehr „schwach“. Den Ausdruck „blöde Augen“ können wir als Sehschwäche interpretieren, eine „blöde Leber“ als eine Leberinsuffizienz. Kräuter, die die „Blödigkeit der Weiber“ [2] vertreiben sollen, werden heute als Pflanzen verstanden, die bei Menstruationsbeschwerden helfen sollen.

Kann das Buch die moderne Pflanzenheilkunde bereichern?

Wer im Buch schmöckert, wird nicht nur von den detailreichen Zeichnungen, sondern vom Umfang des Werkes beeindruckt sein. Der Arzneipflanzenschatz des Tabernaemontanus ist um ein Vielfaches größer als der meine. Ich kann auf rund 300 Arzneidrogen in der Apotheke zurückgreifen und die meisten davon sind mir geläufig. Im Buch des Tabernaemontanus finde ich zehnmal mehr Pflanzen erwähnt. Bei den uns bekannten Heilpflanzen sehen wir, dass die Empfehlungen des Autors durchweg sinnvoll und für uns meist nachvollziehbar sind. Das lässt darauf schließen, dass die Empfehlungen auch bei heute nicht mehr gebräuchlichen Heilpflanzen sinnvoll sein könnten. Mithilfe der modernen Forschung gäbe es hier viel zu entdecken. Besonders sinnvoll könnte die Erforschung von Pflanzenspezies sein, die den Herausforderungen der Erderwärmung trotzen. Diese Pflanzen bleiben uns auch in Zukunft in großen Mengen erhalten. Dazu zählt wahrscheinlich auch die Mäuse-Gerste (Hordeum murinum). Sie wächst häufig in unseren Siedlungen. Pharmakologisch ist dieses Süßgras noch gar nicht untersucht, auch fehlen noch Studien zur Unbedenklichkeit. Tabernaemontanus kennt seine Anwendung bei Durchfall. [2] Oder die Wilde Möhre (Daucus carota subsp. Carota), der Tabernaemontanus mögliche Heilwirkungen bei Erkrankungen der Leber und der Niere zuschreibt. [2]

Mäuse-Gerste
Mäuse-Gerste an einer Kreuzung in Berlin. Quelle: Sebastian Vigl, Berlin

Und zum Schluss

Auch Du willst reich erben? Dafür musst Du heute das Buch des Tabernaemontanus nicht erwerben. Das ganze Buch lässt sich heute auch online lesen. So zum Beispiel die 1687 in Basel erschienene Version, die die Universität Potsdam zur Verfügung stellt [2].

Die Lektüre das Werkes kann uns helfen, unseren Blick zu öffnen: Die Heilpflanzen, die wir heute verwenden, sind nur ein Bruchteil des Arzneipflanzenschatzes der Natur. Wahrscheinlich wohnt in den meisten Pflanzen, die uns begegnen, ein potenzieller Nutzen. Um diesen zu entdecken, sollten wir jedoch nicht ohne nötiges Fachwissen Gebrauch von ihnen machen. Ein erster Schritt kann der Blick in umfangreiche Kräuterbücher wie jenes vom Tabernaemontanus sein.

Literatur

[1] Clair, S. Die Kräutermedizin des Renaissance-Arztes Tabernaemontanus (16. Jh.) und Phytotherapie heute – was ist geblieben, was hat sich verändert? Schweizerische Zeitschrift für Ganzheitsmedizin / Swiss Journal of Integrative Medicine 2011; 23. DOI: 10.1159/000323387

[2] Tabernaemontani JT. Neu vollkommen Kräuter-Buch. Im Internet: https://digital.ub.uni-potsdam.de/content/titleinfo/3270; Stand: 17.05.2022

Wichtiger Hinweis!

Wie jede Wissenschaft ist die Heilpflanzenkunde ständigen Entwicklungen unterworfen. Soweit in diesem Beitrag medizinische Sachverhalte, Anwendungen und Rezepturen beschrieben werden, handelt es sich naturgemäß um allgemeine Darstellungen, die eine individuelle Beratung, Diagnose und Behandlung durch eine Ärztin, einen Arzt oder eine/einen Apothekerin nicht ersetzen können. Jede/Jeder Nutzende ist für die etwaige Anwendung und vorherige sorgfältige Prüfung von Dosierungen, Applikationen oder sonstigen Angaben selbst verantwortlich. Autoren und Autorinnen und Verlag haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass diese Angaben bei ihrer Veröffentlichung dem aktuellen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung für Schäden oder andere Nachteile ist jedoch ausgeschlossen.

Für die meisten Heilpflanzen fehlen Studien zu Unbedenklichkeit bei der Anwendung in der Schwangerschaft und während der Stillzeit, sowie bei Säuglingen, (Klein-)Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Alle beschriebenen Anwendungen sollten daher, sofern nicht ausdrücklich im Beitrag anders beschrieben, bei diesen Personen und in diesen Lebensphasen nicht ohne ärztliche Zustimmung angewendet werden.

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