Pflanzenheilkunde

Die Brennnessel: Fünf unbekannte Details

9. September 2022
Beet mit Brennnesseln

Das Unbekannte reizt uns, doch ist auch Bekanntes für Überraschungen gut. Das gilt auch für die Heilpflanze des Jahres 2022: die Brennnessel. Wie gut kennst Du sie? Die Brennnessel kennt Dich gut, deswegen kann sie Dir besonders weh tun, wie erfährst Du im Beitrag.

Sebastian Vigl

Lesezeit: 5 Minuten

Die Brennnessel ist Heilpflanze des Jahres 2022

2022 ist die Große Brennnessel (Urtica dioica) zur Heilpflanze des Jahres gewählt worden.

Seit 2003 kürt der Verein zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus e.V. (NHV Theophrastus) die Heilpflanze des Jahres. Ziel des Vereins ist es, die Öffentlichkeit über Heilpflanzen zu informieren und Neugierde und Diskussionen anzuregen. Bei manchen exotischen Pflanzen wie der 2013 gekürten Damaszener-Rose (Rosa damascena) oder dem Kubeben-Pfeffer (Piper cubeba) ist das Interesse meist groß. Schließlich sind die Pflanzen nur wenigen bekannt, noch weniger ihre Heilwirkungen.

Bei der Brennnessel trifft das nicht zu. Wer kennt das wehrhafte Gewächs nicht, das sich in menschlicher Nähe so wohlfühlt? Die Brennnessel zählt zu unseren beliebtesten heimischen Heilpflanzen. Ihre Blätter, Wurzel und Samen finden bei unterschiedlichen Erkrankungen und Beschwerden Anwendung – unter anderem bei Blasenentzündungen, rheumatischen Beschwerden, Vergrößerung der Prostata oder Müdigkeit [1].

1. Die Brennnessel kennt Deine Botenstoffe

Die Brennnessel kennt uns besonders gut. Genauer gesagt: Sie kennt unsere Botenstoffe. Sie hat viele Millionen Jahre Erfahrung mit Säugetieren wie uns gemacht. Viele davon würden sich gerne an ihr stärken. Denn die Brennnessel ist eine der eiweißreichsten Nahrungspflanzen: Rund 4 % ihres Frischgewichtes sind Proteine [1].

Brennnesseln sind außergewöhnlich eiweißreich! Als Spinat zubereitet stechen sie übrigens nicht mehr.

Hinweis! Aufgrund ihres Histamingehaltes sollten Menschen mit Histaminunverträglichkeit Brennnesseln nicht verzehren. Eine Einnahme während der Schwangerschaft sollte nur nach ärztlicher Rücksprache erfolgen.

Die Evolution hat die nahrhafte Pflanze mit einer sicheren Strategie zur Selbstverteidigung ausgestattet. Ihre Brennhaare sind mit ätzender Ameisensäure geladen. Bei Berührung gelangen diese in unsere Haut. Dort ist der Schmerz kurz unangenehm. Zusammen mit der Ameisensäure injiziert die Brennnessel noch zwei weitere Bodenstoffe, die auch bei uns Menschen vorkommen: Histamin und Acetylcholin. Histamin ist ein Gewebshormon. Es lässt Gewebe anschwellen. Dadurch entsteht Druck auf sensible Nervenfasern. Acetylcholin ist ein Neurotransmitter. Er macht die Nervenfasern besonders sensibel auf Schmerz.

Die Fähigkeiten, Schmerz zu erzeugen, teilt sich die Brennnessel mit anderen Vertretern aus der Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae). Ein paar davon sind gefährlich.

2. Die gefährlichen Geschwister der Brennnessel

Der Australische Brennnessel (Dendrocnide moroides) mangelt es nicht an Brutalität. Ihr Gift Moroidin tötet in der Regel nicht. Es verursacht aber unvorstellbare Schmerzen. Die Schmerzen sollen sogar schon Mensch und Tier in den Freitod getrieben haben. Sie dauern bisweilen über Monate an und sprechen nicht auf das starke Schmerzmittel Morphin an. Besonders gemein: Das Gift Moroidin unterdrückt auch körpereigene schmerzstillende Stoffe.

3. Trittbrettfahrende Nesselpflanze: Mimikry

Nicht nur Menschen hüten sich vor dem Kontakt mit Brennnesseln, auch die meisten Tiere meiden Brennnesselblätter. Davon profitieren auch andere Pflanzen, wie zum Beispiel die Weiße Taubnessel (Lamium album) und der Wald-Ziest (Stachys sylvatica). Ihre Blätter imitieren Brennnesselblätter, was ihnen laut dem italienischen Botaniker Stefano Mancuso Schutz vor Pflanzenfressern verschafft. [2] Mimikry heißt diese erfolgreiche Strategie der Nachahmung.

Weiße Taubnessel
Die Weiße Taubnessel imitiert Brennnesselblätter. Das hält ihr manchen Fraßfeind vom Leib. Quelle: Sebastian Vigl, Berlin

Die Taubnessel gelangte dadurch unlängst auch zu etwas Ruhm, als Nachrichtenplattformen die Wahl der Brennnessel zur Heilpflanze des Jahres 2022 verkündeten. Einige davon wählten hierfür nicht Fotos von Brennnesselpflanzen, sondern solche von Taubnesseln!

4. „Brennnesselpeitschen“ ist wissenschaftlich erforscht

Vielleicht sind Dir schon mal Menschen begegnet, die sich ihre Gliedmaßen mit frischen Brennnesseln schlagen? Das sogenannten Brennnesselpeitschen ist wie Studien belegen eine interessante und effektive Therapieform. [3][4][5]

Menschen mit Arthrose leiden unter Bewegungseinschränkungen und Schmerzen. Bedingt sind die Beschwerden durch die Abnutzung der Gelenke. Betroffen sind besonders häufig die Kniegelenke. Um den Bedarf an Schmerzmitteln zu reduzieren, greifen viele Betroffene zu naturheilkundlichen Mitteln und Verfahren. Ein besonders altes Verfahren ist das Betupfen oder Schlagen der Gelenke mit frischen Brennnesseln. Dabei gelangt der Inhalt der Brennhaare unter der Haut. Acetylcholin und Histamin verstärken lokal die Durchblutung. Die verstärkte Durchblutung kann die Muskulatur entkrampfen, die Beweglichkeit erhöhen und sich positiv auf Entzündungsprozesse auswirken. Der gesteigerte Zustrom an Blut spült zudem entzündungsfördernde Stoffe aus dem Gelenk.

In mehrere Studien zeigte das Brennnesselpeitschen positive Effekte bei Gelenksarthrose. [3][4][5]

Hinweis! Bezüglich der Unbedenklichkeit des Brennnesselpeitschens liegen noch keine Studien vor. Es sollte nicht auf verletzter oder erkrankter Haut erfolgen. Wer unter allergischen Erkrankungen leidet, sollte Brennnesselpeitschen nur nach ärztlicher Rücksprache anwenden.

Brennnessel könnte bei rheumatischen Erkrankungen auch innerlich Anwendung finden, zum Beispiel als Tee. Brennnesseln enthalten viele entzündungshemmende Wirkstoffe wie Flavonoide und Kaffeoyläpfelsäure.

Achtung! Eine innerliche Anwendung bei Ödemen infolge eingeschränkter Herz- oder Nierentätigkeit darf nur nach ärztlicher Absprache erfolgen.

5. Erste Versuche mit Brennnesseln bei Heuschnupfen

Eine besondere Zellenart des Immunsystem, die Mastzellen, spielen eine herausragende Rolle bei Allergien. Mastzellen setzen unter anderem den entzündungsfördernden Botenstoff Histamin frei. Wirkstoffe der Brennnessel konnten dies in Versuchen unterbinden, da sie den Histamin-H1-Rezeptor von Mastzellen blockieren. [6] Erste Studien und die praktische Erfahrung lassen vermuten: Wer von Heuschnupfen betroffen ist, könnte von der Einnahme von Brennnessel profitieren. [7]

Und zum Schluss

Auch uns gut bekannte Heilpflanzen sind für Überraschungen gut, so auch die Brennnessel. Besonders interessant ist ihre Beziehung zu unserem Botenstoff Histamin: Einerseits produziert sie ihn selbst in ihren Brennhaaren. Das schmerzt nicht nur bei Berührung, sondern kann sogar – zum Beispiel beim Brennnesselpeitschen – lindernd sein. Andererseits könnte sie Studien zufolge – zum Beispiel bei allergischen Erkrankungen – die Freisetzung von Histamin durch Abwehrzellen verringern.

Literatur

[1] Blaschek W, Ebel S, Hackenthal, E, Holzgrabe U, Keller K, Reichling J, Schulz, V. Urtica. Hagers Enzyklopädie der Arzneistoffe und Drogen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft/Springer; 2014

[2] Mancuso S, Viola A. Die Intelligenz der Pflanzen. Kunstmann; 2015

[3] Randall C, Meethan K, Randall H et al. Nettle sting of Urtica dioica for joint pain–an exploratory study of this complementary therapy. Complement Ther Med. 1999 ; 7: 126–31. DOI: 10.1016/s0965-2299(99)80119-8

[4] Randall C, Randall H, Dobbs F et al. Randomized controlled trial of nettle sting for treatment of base-of-thumb pain. J R Soc Med. 2000; 93: 305 –9. DOI: 10.1177/014107680009300607

[5] Randall C, Dickens A, White A et al. Nettle sting for chronic knee pain: a randomised controlled pilot study. Complement Ther Med. 2008; 16: 66 –72. DOI: 10.1016/j.ctim.2007.01.012

[6] Roschek B Jr, Fink RC, McMichael M et al. Nettle extract (Urtica dioica) affects key receptors and enzymes associated with allergic rhinitis. Phytother Res. 2009; 23: 920 –6. DOI: 10.1002/ptr.2763

[7] Mittman P. Randomized, double-blind study of freeze-dried Urtica dioica in the treatment of allergic rhinitis. Planta Med. 1990 ; 56: 44–7. DOI: 10.1055/s-2006-960881

Wichtiger Hinweis!

Wie jede Wissenschaft ist die Heilpflanzenkunde ständigen Entwicklungen unterworfen. Soweit in diesem Beitrag medizinische Sachverhalte, Anwendungen und Rezepturen beschrieben werden, handelt es sich naturgemäß um allgemeine Darstellungen, die eine individuelle Beratung, Diagnose und Behandlung durch eine Ärztin, einen Arzt oder eine/einen Apothekerin nicht ersetzen können. Jede/Jeder Nutzende ist für die etwaige Anwendung und vorherige sorgfältige Prüfung von Dosierungen, Applikationen oder sonstigen Angaben selbst verantwortlich. Autoren und Autorinnen und Verlag haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass diese Angaben bei ihrer Veröffentlichung dem aktuellen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung für Schäden oder andere Nachteile ist jedoch ausgeschlossen.

Für die meisten Heilpflanzen fehlen Studien zu Unbedenklichkeit bei der Anwendung in der Schwangerschaft und während der Stillzeit, sowie bei Säuglingen, (Klein-)Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Alle beschriebenen Anwendungen sollten daher, sofern nicht ausdrücklich im Beitrag anders beschrieben, bei diesen Personen und in diesen Lebensphasen nicht ohne ärztliche Zustimmung angewendet werden.

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