Pflanzenheilkunde

Gemmotherapie – die Kraft der Knospen

20. März 2024
Pappelknospen am Zweig vor blauem Himmel.

Wenn im Frühling die ersten Triebe sich zart und dennoch kraftvoll auszubilden beginnen, ist die Jagdsaison zum Sammeln von Knospen eröffnet. Denn in den Knospen von vielen Bäumen, Sträuchern und Kräutern steckt eine große Heilkraft – diese können wir in Form der Gemmotherapie nutzen.

Martin Zwiesele

Lesezeit: 5 Minuten

Knospen und ihr Einsatz in der Phytotherapie

Während die medizinische Verwendung von Pflanzen bis in die Steinzeit zurück geht, finden sich detaillierte Hinweise zur Nutzung von Knospen erst im 12. Jahrhundert bei Hildegard von Bingen. Sie empfiehlt 8 Knospen für Heilzwecke, von denen einige wie die Schwarze Johannisbeere, die Birke und die Silberlinde heute eine bedeutende Rolle in der Gemmotherapie spielen. Als Begründer dieser modernen Knospentherapie gilt der belgische Arzt Dr. Pol Henry (1918 –1988), der nach dem 2. Weltkrieg seinen Patienten bereits Auszüge aus Knospen, Trieben und Wurzeln verabreichte. Er fand dafür 1959 den Begriff der „Phytoembryotherapie“, weil er die Wirkung auf die Besonderheiten des pflanzlichen Embryonalgewebes zurückführte. Später entstand unter Dr. Max Tétau (1927-2012) der Begriff der „Gemmotherapie“ – aus dem lateinischen Wort „gemma“ für Knospe. 

Die Gemmotherapie ist in Deutschland noch deutlich weniger bekannt als in Frankreich, Italien oder der Schweiz. Sie wurde 1965 Teil des Französischen, erst im Jahr 2011 Bestandteil des Europäischen Arzneimittelbuches, wo sie den homöopathischen Herstellungsverfahren zugeordnet ist [1].

Wie funktioniert die Gemmotherapie?

Knospen bestehen aus sogenannten Meristemzellen. Diese entsprechen bei Tieren und Menschen den embryonalen Stammzellen: Sie enthalten viel genetisches Material und eine hohe Teilungsaktivität, da aus diesen Zellen im Prinzip die gesamte Pflanze entsteht. Ihr Gehalt an Aminosäuren und Proteinen (z.B. Wachstumshormone) ist wesentlich höher als in den bereits ausgebildeten Pflanzenteilen. Als omnipotente Zellen sind sie noch undifferenziert – beinhalten also Informationen, die für die Entwicklung der gesamten Pflanze relevant sind. Außerdem enthalten den Knospen in kleinen Mengen bereits die charakteristischen sekundären Inhaltsstoffe wie ätherische Öle, Flavonoide oder Gerbstoffe wieder. Dies erklärt, warum viele Gemmotherapeutika Aspekte der phytotherapeutischen Wirkungen aufweisen, aber in ihrem Wirkspektrum teilweise deutlich über sie hinausgehen [1].

Was ist drin in Knospen?

Die Inhaltsstoffe unterscheiden sich bei den unterschiedlichen Knospen teils erheblich. Allen gemein ist die große Menge an Proteinen, Aminosäuren, Flavonoiden und pflanzlichen Hormonen. Dazu zählen [3]:

  • Auxine: Diese Wachstumshormone regen das Längenwachstum der Sprosse und die Zellteilung an und spielen auch bei der Abwehr pathologischer Einflüsse eine Rolle.
  • Oligosaccharide: Es handelt sich dabei um Kohlenhydrate, die das Wachstum und die Differenzierung von Zellen regulieren sowie zur Abwehr gegen Bakterien, Pilze und mechanische Beschädigungen wirken.
  • Gibbellerine: Dabei handelt es sich um in Pilzen und Pflanzen vorkommende Wachstumshormone, die das Wachstum, die Keimung und die Blüte anregen [2]
  • Zytokinine: Diese Phytohormone stimulieren die Zellteilung und das Streckenwachstums. Sie verstärken sich in ihrer Wirkung mit anderen Phytohormonen wie die Auxine. Als Gegenspieler wirkt etwa die Abscisinsäure, die als pflanzliches Stresshormon das Wachstum und die Keimung der Samen und Knospen hemmt.
  • zahlreiche Flavonoide und Polyphenole
  • Enzyme und Aminosäuren
  • Proteine und Nukleinsäuren
  • Mineralien und Spurenelemente
  • Vitamine

Die Knospe Nr. 1 in der Gemmotherapie

Als ein Beispiel möchte ich das vielleicht bekannteste Mittel der Knospentherapie vorstellen: Die Knospen der Schwarzen Johannisbeere (Gemmae Ribes nigrum) haben ein sehr breites Wirkspektrum. Sie gelten als das „pflanzliche Kortison“, da sie die Nebennierenrinde anregen und die Histaminwirkung hemmen können. Wegen ihrer entzündungshemmenden Wirkung werden sie gerne bei allergischen Störungen, Atemwegserkrankungen, Erschöpfung, Gelenkbeschwerden, Rheuma oder Gicht verordnet. Aber auch bei Haut- und Atemwegserkrankungen kommen sie zum Einsatz [2]. Eine aktuelle Studie identifizierte 133 Inhaltsstoffe, die unter anderem auf eine starke antioxidative, nervenschützende und entzündungshemmende Wirkung hinweisen, während keine zytotoxischen Wirkungen festgestellt wurden [4].

Anwendungsmöglichkeiten und medizinisch anerkannte Wirkungen

Leider existieren noch keine offiziellen Monografien der relevanten wissenschaftlichen Institutionen wie ESCOP oder Kommission zu Gemmopräparaten. Viele Indikationen entspringen der traditionellen Verwendung oder praktisch-empirischen Erfahrungen von Ärzten und Therapeuten: So werden Gemmotherapeutika einerseits bei akuten Infekten zur Linderung von Symptomen und zur Unterstützung des Heilungsprozesses eingesetzt. Andererseits gibt es auch bei chronischen Geschehen offenbar gute Erfahrungswerte, gerade wenn es um die Hormonregulation oder Entzündungshemmung bei rezidivierenden Infekten geht. Zudem finden Gemmopräparate bei nervösen oder psychosomatischen Leiden ein gutes Einsatzfeld [5]. Auch stärkende Effekte auf das Immunsystem sind festzustellen.

Nebenwirkungen durch den Einsatz von Gemmopräparaten sind keine bekannt. Auch als komplementäre Begleitung zur schulmedizinischen Therapie mit Antibiotika, Schmerzmitteln oder Antirheumatika können sie unterstützen.

DIY – Anleitung zur Herstellung von Gemmopräparaten

Die Herstellung von Gemmopräparaten ist relativ einfach. Es gibt unterschiedliche Herstellungsrezepte, von denen ich eine Variante vorstellen möchte.

Du benötigst für den Hausgebrauch:

  • 1 g ausgewählte Pflanzenknospen
  • 15 ml destilliertes Wasser
  • 15 ml pflanzliches Glycerin (85–99%)
  • 15 ml Alkohol (90 Volumen-%)
  • Küchenwaage (mindestens auf 1/10 g genau)
  • ein scharfes Messer
  • ein Holzbrettchen
  • einen kleinen Trichter
  • einen Messzylinder
  • ein Becherglas 250 ml
  • einen Teefilter oder feine Gaze
  • Sprühflaschen mit Sprühkopf

Herstellung: Die gesammelten Knospen werden abgewogenen und mit dem scharfen Messer sehr klein geschnitten, was zu einer enormen Volumenzunahme führt. Das zerkleinerte Pflanzengut gibst Du in das Becherglas, in das vorher nacheinander das Wasser, der Alkohol und das Glycerin gegeben und miteinander vermischt wurden. Die Mischung sollte für mindestens 3–4 Wochen an einem warmen, lichtgeschützten Ort stehen und einmal täglich bewegt bzw. geschüttelt werden. Danach wird die Mischung durch den Teefilter gefiltert und mittels Trichter in die Sprühflaschen gefüllt. Die selbst angefertigten Gemmomazerate halten etwa 2-3 Jahre.

Tipp: Die hoch konzentrierten Gemmomazerate potenziere ich entsprechend der ursprünglichen Herstellungsangaben im französischen Arzneimittelbuch zur homöopathischen Darreichungsform D1. Dazu wird das Gemmomazerat mit 9 Teilen destillierten Wassers verdünnt und 10x verschüttelt. Anmerkung: Ich verwende zur Potenzierung nicht die sonst angegebene Alkohol-Wasser-Glycerin-Mischung, sondern lediglich destilliertes Wasser. Somit ist durch die Verdünnung der Alkoholgehalt auch für Kinder kein Risiko.

Zerkleinerte Knospen der Schwarzen Johannisbeere zur Herstellung eines Gemmopräparats für den Hausgebrauch. Quelle: Martin Zwiesele/Leipzig

Wie wende ich die Gemmopräparate im Alltag an?

Die Anwendung erfolgt als Spray direkt in den Mund. Bei Erwachsenen empfehlen sich 3 x täglich 2-3 Sprühstöße, im akuten Fall bis zu 10 x täglich. Bei Kindern wären es entsprechend 3 x täglich 1-2 Sprühstöße [7]. Durch das Glycerin haben die Mittel einen leicht süßlichen Geschmack, die sich von Knospe zu Knospe sehr deutlich unterscheiden kann. Manche Gemmo-Fans haben sich eine private Knospen-Hausapotheke zugelegt, die sie alle paar Jahre erneuern.

Abschluss

In den Knospen begegnen uns die Kräfte der Pflanzen in konzentrierter Form. Sie beinhalten teilweise auch Stoffe, die in späteren Wachstumsphasen nicht mehr vorhanden sind. Mithilfe der Gemmotherapie kannst Du Dich auch mit den Frühlings- und Wachstumskräften der Natur verbinden und Deine eigenen Erfahrungen mit den unterschiedlichen Pflanzen machen. Für mich jedenfalls gehören die Gemmopräparate neben homöopathischen Mitteln, Tees und anderen pflanzlichen Zubereitungen sowohl zu Hause als auch in meiner Praxis zum festen Inventar.

Literatur

[1] Stern C. Gemmotherapie: Grundlagen – Indikationen – Behandlung. Stuttgart: Haug; 2019

[2] Steingassner HM. Gemmotherapie – Phytotherapie – Mineralientherapie. München: Wilhelm Maudrich; 2005

[3] Aleya A et al. Phytoconstituent Profiles Associated with Relevant Antioxidant Potential and Variable Nutritive Effects of the Olive, Sweet Almond, and Black Mulberry Gemmotherapy Extracts. Antioxidants 2023; 12: 1717

[4] Téglás T et al. The Flavonoid Rich Black Currant (Ribes nigrum) Ethanolic Gemmotherapy Extract Elicits Neuroprotective Effect by Preventing Microglial Body Swelling in Hippocampus and Reduces Serum TNF-α Level: Pilot Study. Molecules 2023; 28: 3571

[5] Bichsel, B. 2018. Gemmotherapie – die Kraft der Knospen. Naturheilkunde Journal 2018; 10: 54-56

[6] Roth, C. 2013. Gemmotherapie – die Knospenmedizin. Deutsche Heilpraktiker Zeitschrift 2013; 3: 18-21

[7] https://www.gemmo.de/news/presse/news/19_04_gemmo_herstellen-3.php. Stand: 13.03.2024

Wichtiger Hinweis!

Wie jede Wissenschaft ist die Heilpflanzenkunde ständigen Entwicklungen unterworfen. Soweit in diesem Beitrag medizinische Sachverhalte, Anwendungen und Rezepturen beschrieben werden, handelt es sich naturgemäß um allgemeine Darstellungen, die eine individuelle Beratung, Diagnose und Behandlung durch eine Ärztin, einen Arzt oder eine/einen Apothekerin nicht ersetzen können. Jede/Jeder Nutzende ist für die etwaige Anwendung und vorherige sorgfältige Prüfung von Dosierungen, Applikationen oder sonstigen Angaben selbst verantwortlich. Autoren und Autorinnen und Verlag haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass diese Angaben bei ihrer Veröffentlichung dem aktuellen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung für Schäden oder andere Nachteile ist jedoch ausgeschlossen.

Für die meisten Heilpflanzen fehlen Studien zu Unbedenklichkeit bei der Anwendung in der Schwangerschaft und während der Stillzeit, sowie bei Säuglingen, (Klein-)Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Alle beschriebenen Anwendungen sollten daher, sofern nicht ausdrücklich im Beitrag anders beschrieben, bei diesen Personen und in diesen Lebensphasen nicht ohne ärztliche Zustimmung angewendet werden.

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